Mythen rund ums Krafttraining
Mythos Nr. 1: Nur das Training mit grossen Gewichten bringt einen Zuwachs an Muskelmasse.
Je fortgeschrittener, leistungsfähiger und ambitionierter jemand ist, desto anspruchsvoller wird das Training. Die besten Voraussetzungen für eine Zunahme an Kraft haben Leute, die am Anfang wenig Kraft haben. Das ist wie beim Abnehmen: Personen mit viel Übergewicht nehmen am Beginn stärker ab als Personen mit nur ein paar Kilos zuviel. Anfänger und Gesundheitssportler können durch moderates Krafttraining mit relativ geringen Widerständen und kleinen Trainingsumfängen sehr viel erreichen.
Mit der Zeit, wenn sich Fortschritte eingestellt haben, sollten die Belastungen im Training variiert und erhöht werden: Größere Wiederholungszahlen, größere Lasten und/oder größere Anforderungen an die sensomotorischen Fähigkeiten. Generell haben Muskeln einen schnellen Gewöhnungseffekt, deswegen sollte man beim Training immer wieder neue Übungen einbauen oder eben die Gewichte erhöhen.
Mythos Nr. 2: Krafttraining ist schlecht für die Gelenke
Das Gegenteil ist der Fall: durch ein planmäßig aufgebautes, den individuellen Voraussetzungen angepasstes Krafttraining werden die Gelenke stabiler und die Beweglichkeit erhöht. Deswegen ist es besonders für Frauen ab 50 ratsam, Krafttraining zu betreiben, denn ab 50 verliert man pro Jahr ca. 0,4 Prozent der Muskelmasse, wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert.
Durch ein optimal gestaltetes Krafttraining kann man degenerativen Veränderungen an den Gelenken, diversen Zivilisationskrankheiten und auch der Osteoporose vorbeugen. Wer an Gelenkserkrankungen leidet, kann durch systematisches Krafttraining sehr oft die Schmerzen lindern und das Fortschreiten der degenerativen Prozesse verzögern.
Mythos Nr. 3: Wer seine Muskeln trainiert, legt an Körpergewicht zu
Muskelgewebe ist schwerer als Fettgewebe. Von daher kann es tatsächlich sein, dass man durch Krafttraining mehr Gewicht auf die Waage bringt. Aber: mit steigender Muskelmasse steigt auch dein Grundumsatz, d.h. dass deine Muskeln auch im Ruhezustand Kalorien verbrauchen und du durch den Nachbrenneffekt auch Stunden nach dem Training Fett verbrennst.
Wer mehr Muskelmasse besitzt, kann also leichter das Idealgewicht erlangen und erhalten. Wenn du dein Erscheinungsbild nicht mit der Waage, sondern vor dem Spiegel kontrollierst, wirst du bald erkennen, dass Krafttraining mittel- und langfristig viel mehr bringt als jede Schlankheitsdiät.
Mythos 4: Krafttraining für Kinder ist sinnlos und gefährlich
Auch Kinder profitieren von regelmäßigem Krafttraining in einer Form, die ihrem Entwicklungsstand und ihrem Temperament entspricht. Zumal in den letzten Jahren die Anzahl übergewichtiger Kinder zunimmt und Kinder verstärkt Haltungsschäden (Stichwort: Handybuckel) aufweisen.
Die Kraft nimmt im ersten Lebensjahr um mehrere Hundert Prozent zu. Die Eltern können viel zu einer gesunden Entwicklung ihrer Kinder beitragen, wenn sie ihnen schon im Kleinkindalter täglich die Möglichkeit geben, die eigene Kraft zu spüren, einzusetzen und durch vielseitigen, spielerischen Gebrauch zu entwickeln.
Vor dem Eintritt in die Pubertät darf man sich keine starke, durch das Training bedingte Zunahme der Muskelmasse erwarten.
Während des intensiven Wachstums im Kindes- und Jugendalter weist der passive Bewegungsapparat an den Epiphysenfugen Schwachstellen auf, die nicht überbeansprucht werden dürfen. Wer aus diesem Grunde versucht, das Bewegungssystem generell zu schonen, macht aber einen groben Fehler. Krafttraining für Kinder schult die Koordination innerhalb des Muskels, wodurch die Leistungsfähigkeit steigt und Verletzungen vorgebeugt werden können. Allerdings sollte beim Krafttraining an Geräten darauf geachtet werden, dass diese für Kinder geeignet sind. Hierfür gibt es bereits eigene Fitnesscenter für Kinder.
Mythos Nr. 5: Einmal ist keinmal, wer nicht mehrmals pro Woche trainiert, kann es genauso gut bleiben lassen.
Ideal sind zwei Krafttrainings-Einheiten pro Woche. Wer als Gesundheitssportler bereits über gut entwickelte Muskeln verfügt, kann sein Niveau durch eine Trainingseinheit pro Woche einigermaßen erhalten.
Wer mehr als zweimal pro Woche oder sogar täglich trainiert, sollte die Methoden variieren und „splitten“, das heisst zum Beispiel: am Montag und Donnerstag die Bein- und Hüftmuskeln sowie die vorderen Rumpfmuskeln und am Dienstag und Freitag die Muskeln des Schultergürtels und der Arme sowie die Rückenmuskeln trainieren.
Beispiele für ein gesplittetes Krafttraining im Bodybuilding:
4 Trainingseinheiten (TE) pro Woche: 1 TE: Rücken und Bizeps; 2 TE: Schultern und
Nacken; 3. TE: Oberschenkel und Waden; 4. TE: Brust, Trizeps und Bauch.
7 TE pro Woche: 1 TE: Brust 100% / Trizeps 30%; 2. TE: Beine 100% / Schultern 30%;
- TE: Rücken 100% / Bizeps 30%; 4. TE: Trizeps 100%; 5. TE: Schultern 100% / Brust
30%; 6. TE: Bizeps 100% / Bücken 30%; 7. TE: Ausdauer- und Stabilisationstraining
Mythos Nr. 6: Anfänger sollten nur unter Anleitung trainieren.
Einfache Übungen wie zum Beispiel solche mit dem Theraband oder mit kleinen Handgeräten können ohne spezielle Anleitung gemacht werden. Für koordinativ komplexe Übungen und für Übungen an Maschinen braucht es eine Anleitung und eine professionelle Begleitung, bis die Trainierenden selbständig trainieren können. Wer ohne Kontrolle durch eine Fachperson trainiert, sollte seine Körperhaltung und die Ausführung der Kraftübungen mit einem Spiegel kontrollieren.Quelle:
Jost Hegner
Fachleiter Sportbiologie / Bewegungs- und Trainingslehre
Institut für Sportwissenschaft, Universität Bern
Bremgartenstrasse 145, 3012 Bern
Autor des Buches: „Training – fundiert erklärt“ erschienen im „Ingold Verlag“
Mythos Nr. 7: Ein Aufwärmen vor dem Krafttraining ist nicht nötig.
Für das Training an Kraftmaschinen wärmt man sich am besten auf, indem man an jeder Maschine eine «Aufwärmserie» mit relativ kleinen Widerständen macht. Für koordinativ anspruchsvolle Ganzkörperübungen sowie für das Explosivkrafttraining und das technikorientierte Krafttraining braucht es ein umfassendes Aufwärmen. Dazu gehören unter anderem das Mobilisieren der Gelenke, das Tonisieren im Sinne eines systematischen Spannungsaufbaus und das Aktualisieren komplexer Bewegungsmuster.
Mythos Nr. 8: Das Training mit Hanteln ist effizienter als ein solches an Kraftmaschinen.
Krafttraining an Maschinen bedeutet langsame und gleichförmige Beanspruchung einzelner Muskeln und dient vor allem der Erhaltung oder Entwicklung der aktiven Körpermasse. Besonders ab einem Alter 50+ ist das Training an Maschinen wichtig, um den Abbau der Muskeln entgegen zu wirken.
Training mit Hanteln ist koordinativ anspruchsvoll. Es setzt voraus, dass man den Rumpf, den Schultergürtel und die Gelenke stabilisieren kann, dass die Agonisten und Antagonisten mehrerer Gelenke gut koordiniert zusammenarbeiten und dass man aktiv das Gleichgewicht sichern kann. Krafttraining mit Hanteln dient deshalb vor allem der Entwicklung der intermuskulären Koordination, also der Abstimmung der Stützmotorik auf die Zielmotorik und der Verbesserung der Explosivkraft.
Mythos Nr. 9: Das Training an Maschinen lässt die intermuskuläre Koordination verkümmern
Kraftmaschinen eignen sich hauptsächlich zum Aufbau und zur Erhaltung der Muskulatur und zum Ausgleichen von Defiziten. Beim Trainieren an Maschinen muss man den Rumpf und die Gelenke nicht selber stabilisieren und die intermuskuläre Koordination wird tatsächlich kaum gefördert. Dafür ist das Unfall- und Verletzungsrisiko beim Trainieren an Maschinen sehr gering.
Damit auch die «Geschicklichkeit» entwickelt wird, sollte das «Maschinen-Training» durch Übungen ergänzt werden, welche der Alltags- und Sportmotorik entsprechen, das komplexe Zusammenspiel von bewegenden und stabilisierenden Muskeln erfordern und die koordinativen Fähigkeiten fördern.
Mythos Nr. 10: Durch Krafttraining kann ich punktuell abspecken.
Wer Übergewicht hat, sollte die Bilanz zwischen aufgenommener und verbrauchter Energie ins Gleichgewicht bringen. Um abzunehmen muss man mehr Kalorien verbrennen als man aufnimmt. Also weniger essen und mehr bewegen. Das Verbrennen von Kalorien funktioniert, indem ich durch Krafttraining die stoffwechselaktive Körpermasse (Muskelmasse) vergrössere, so dass der Verbrauch von überschüssig gespeicherter Energie möglich wird.
Auch der «Nachbrenn-Effekt», den man nach einer Trainingseinheit im Kraftraum beobachten kann, führt zu einem erhöhten Energieverbrauch und (möglicherweise) zu einem Verlust an überflüssigem Fett.
Allerdings funktioniert es nicht, dass man durch Training gezielt „nur“ an Po oder Bauch abnimmt.
Mythos Nr. 11: Krafttraining hat positive Effekte bei Diabetes.
Viele Jahre rieten Ärzte Diabetikern von Krafttraining grundsätzlich ab. Nun wird eine Kombination aus Ausdauersport und Krafttraining empfohlen, da sich so der Zuckerstoffwechsel am meisten verbessert.
Ausdauertraining führt zu einer erhöhten Insulinsensitivität der Muskelfasern und der Leberzellen, so dass der Blutzuckerspiegel leichter reguliert werden kann. Diabetiker sollten deshalb vor allem die Ausdauer trainieren und das Ausdauertraining durch ein moderates Krafttraining ergänzen.
Mythos Nr. 12: Senioren sollten auf Krafttraining verzichten, es bringt ohnehin nichts mehr.
Für Krafttraining ist man nie zu alt; im Gegenteil, es gibt kaum ein besseres Mittel, um Unfällen und Verletzungen vorzubeugen und Altersbeschwerden zu lindern als regelmäßiges, variantenreiches, den individuellen Bedürfnissen und Voraussetzungen entsprechendes Krafttraining.
Wer im Seniorenalter seine Alltagstauglichkeit und Selbständigkeit, seine Gesundheit und Lebensqualität erhalten will, muss seine Kraft trainieren. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der Verlust an Muskelmasse weniger eine Frage der Jahre als eine Folge von mangelndem Gebrauch ist und dass auch Hochbetagte durch Krafttraining ihre Kraftfähigkeiten aufbauen und erhalten können.
Mythos Nr. 13: Wer seine Muskeln regelmäßig trainiert, hat eine bessere Körperwahrnehmung.
Wer nur seine Muskeln trainiert, gewinnt wenig in Bezug auf die Körperwahrnehmung. Kraft ist einerseits von der Muskelmasse und andererseits von der Regulation der Muskelaktivität durch das Nervensystem abhängig. Ein koordinativ anspruchsvolles Krafttraining beansprucht auch die Feedbacksysteme des Nerv-Muskel-Systems und fördert dadurch nicht nur die Muskelmasse, sondern auch die Sensorik und damit die Körperwahrnehmung und das Körperbewusstsein.
Es ist deshalb wichtig, dass das Krafttraining an Maschinen durch Übungen ergänzt wird, welche eine subtile Koordination von Ziel- und Stützmotorik erfordern.Übungen, bei denen der Rumpf und die Gelenke stabilisiert werden müssen (z.B. Plank), bei denen grössere funktionelle Einheiten (Muskelschlingen) zusammen wirken (z.B. Squads) und bei denen aktiv das Gleichgewicht gesichert werden muss (z.B. Ausfallschritt).
Mythos Nr. 14: Wer Krafttraining betreibt, ist übertrieben eitel.
Viele Leute machen hauptsächlich aus ästhetischen Gründen Krafttraining, zur Pflege des guten Aussehens, und weil sie es schätzen, wenn sie sich noch im Spiegel ansehen können. Das hat mit übertriebener Eitelkeit nichts zu tun. Krafttraining dient aber bei Weitem nicht nur der Erhaltung einer guten Figur, sondern ist eine Notwendigkeit, wenn man gesund und leistungsfähig bleiben will und wenn man eine optimale Lebensqualität erhalten möchte.
Mythos Nr. 15: Krafttraining führt zu Muskelverkürzungen.
Mobilisieren, Kräftigen, Lockern und Dehnen gehören zusammen.
Ideal ist, wenn die Kraftübungen selber eine dehnende Komponente enthalten. Zudem sollten zwischen den einzelnen Kraftübungen und am Ende jeder Trainingseinheit Lockerungs- und Dehnungsübungen gemacht werden. Dabei sind aktiv-dynamische Übungen und intermittierendes Stretching zu empfehlen.
Mythos Nr. 16: Krafttraining macht Ausdauersportler langsam.
Man kann alles so anstellen, dass das Gegenteil von dem herauskommt, was man erreichen möchte, auch das Krafttraining! Krafttraining ist eine Notwendigkeit für alle Läuferinnen und Läufer. Es muss so geplant und gestaltet werden, dass die Rumpf- und Gelenkstabilität verbessert wird, dass die Kraftausdauer zunimmt und die Reaktiv- und Explosivkraft in den Beinen verbessert wird, ohne dass die Muskelmasse massiv vergrössert wird.
Auch Biker brauchen eine gut entwickelte Rumpfstabilität und eine hervorragende Kraftausdauer. Weniger wichtig ist für sie die Reaktivkraft, weil die Muskeln beim Radfahren konzentrisch (überwindend) und nicht exzentrisch (bremsend) beansprucht werden.
Mythos Nr. 17: Durch Krafttraining kommt es zu muskulären Disbalancen.
Neuromuskuläre Disbalancen entstehen, wenn im Alltag das Bewegungssystem unphysiologisch belastet wird oder wenn man sehr einseitig trainiert. Neuromuskuläre Disbalancen beruhen auf einem Kraftdefizit in einzelnen Muskeln und einem zu hohen «Tonus» in den entsprechenden Antagonisten, was dort mit der Zeit zu strukturellen Verkürzungen führen kann.
Wer Agonisten und Antagonisten gleichermassen beansprucht und im Krafttraining über den ganzen Gelenkwinkelbereich (ROM) arbeitet, betreibt die bestmögliche Prävention gegen neuromuskuläre Disbalancen.
Von Dehnungsübungen (alleine) verspricht man sich in diesem Zusammenhang in der Regel eher zu viel. Durch (statisches) Dehnen wird zwar der Muskeltonus herabgesetzt und die Kontraktionsbereitschaft reduziert, aber diese Wirkung hält nur etwa 20 Minuten an. Mit einem systematischen und vielseitigen Krafttraining in Kombination mit regelmässigem Dehnen kann neuromuskulären Disbalancen am besten vorgebeugt werden. Quelle:
Jost Hegner
Fachleiter Sportbiologie / Bewegungs- und Trainingslehre
Institut für Sportwissenschaft, Universität Bern
Bremgartenstrasse 145, 3012 Bern
Autor des Buches: „Training – fundiert erklärt“ erschienen im „Ingold Verlag“
Quelle:
Jost Hegner
Fachleiter Sportbiologie / Bewegungs- und Trainingslehre
Institut für Sportwissenschaft, Universität Bern
Bremgartenstrasse 145, 3012 Bern
Autor des Buches: „Krafttraining, Mythen und Fakten“ erschienen im „Ingold Verlag“